Der KI-Boom dauert an: Was bedeutet das für die Nachhaltigkeit?

Ian Parnell 01. Nov. 2023 Lesezeit 7 Min.
Entdecken Sie KI und Nachhaltigkeit und konzentrieren Sie sich dabei auf die Auswirkungen des Trainings großer Sprachmodelle auf die Umwelt und die Rolle von KI bei den Bemühungen um Nachhaltigkeit.
„Remember, remember the 5th of November“
 
Wer im Vereinigten Königreich aufgewachsen ist, verbindet diese Jahreszeit unweigerlich mit dem berühmten Kindergedicht über Guy Fawkes‘ gescheiterten Anschlag auf das Parlament in London vor vielen hundert Jahren. Aber ich möchte eine neue Assoziation vorschlagen: Wir sollten lieber an den 30. November denken. Sie mögen skeptisch sein, aber ich kann es begründen …
 
Am 30. November 1487 erließ Herzog Albrecht IV. von Bayern in München das erste deutsche Reinheitsgebot, das festlegte, dass Bier aus nur drei Zutaten – Wasser, Malz und Hopfen – zubereitet werden durfte.
 
Und am 30. November 1872 wurde in Glasgow das erste internationale Fußballspiel ausgetragen. Die Begegnung zwischen Schottland und England endete 0:0.
 
Das Testdebüt des legendären australischen Cricketspielers Sir Donald Bradman am 30. November 1928 war wenig vielversprechend: Mit nur 18 und 1 gegen England rutschte er für das nächste Spiel in der Test-Serie auf Position 12 ab. Bradman erreichte in seiner Karriere, die 80 Testspiele umfasste, einen Durchschnitt von 99,84 – eine Leistung, die wahrscheinlich nie wieder erreicht werden wird. 
 
Fragen Sie sich nun, was Bier, Fußball und Cricket mit den aktuellen Themen KI (künstliche Intelligenz) und Nachhaltigkeit zu tun haben?
 
Dann denken Sie an den 30. November 2022 zurück, als Open AI der Welt ChatGPT bescherte. Guy Fawkes wäre von der globalen Explosion beeindruckt gewesen, die wir seitdem erlebt haben – und von den Auswirkungen auf den Alltag so vieler Menschen.
 
Nachhaltigkeit ist ein weiteres Thema, das immer bedeutender wird. Angesichts der Vielfalt und durchwachsenen Vertrauenswürdigkeit der heute verfügbaren Informationsquellen achte ich bewusst auf die unvoreingenommene Perspektive junger Menschen. Es ist noch gar nicht so lange her, dass ich meine Kinder täglich ermahnte, alle nicht benötigten Lampen und elektrischen Geräte auszuschalten. Inzwischen ist es umgekehrt: Meine Kinder passen nun auf, dass ich keine Fehler beim Recycling mache! Recycling bedeutet, dass wir weniger Energie verbrauchen, als für die Herstellung und den Transport von Neuwaren erforderlich wäre, und somit die CO2-Emissionen verringern. Wie meine Kinder mir regelmäßig vorhalten, ist jedes Wiederverwenden, Reparieren oder Recyceln ein kleiner Beitrag zur Rettung der Welt!
 
 
Was können wir aber sonst noch tun, um unsere CO2-Bilanz zu verbessern?
 
Die meisten Unternehmen haben längst Nachhaltigkeitsrichtlinien eingeführt und verfügen über eine große Auswahl an Tools, Ressourcen und Vorgaben zur Unterstützung der Messung von und Berichterstattung zu ESG-Initiativen. Immer mehr Unternehmen veröffentlichen Inhalte zu ihren Nachhaltigkeitsinitiativen. Das dient nicht nur der Transparenz und dem Einblick in die Unternehmen, sondern auch der positiveren Markenwahrnehmung. Das bekannte Technologieunternehmen Apple erstellte kürzlich ein aufwendiges Video zu seinen Fortschritten im Hinblick auf die Umweltziele. Bereits am ersten Tag nach dem Hochladen des Videos wurde es über eine halbe Million Mal auf „X“ (vormals Twitter) aufgerufen.
 
Die Umstellung auf erneuerbare Energien und die Senkung des Verbrauchs sind erste wichtige Schritte zur Reduzierung der CO2-Emissionen. Um dabei wirklich effektiv vorzugehen, müssen Sie zunächst die aktuelle Nutzung erfassen, Ziele festlegen und in der Lage sein, den Fortschritt zu messen. Sie können sich das wie eine Diät vorstellen: Wenn Sie weder Ihr Ausgangsgewicht noch die Anzahl der täglich zugeführten Kalorien kennen, werden Sie Ihr Zielgewicht wahrscheinlich nicht erreichen.
 
Ein besonders eingängiger Aspekt des Ethical Business Summit, einer kürzlich durchgeführten Veranstaltung der ATC (Association of Translation Companies), war für mich das Mantra „Fortschritt, nicht Perfektion“ aus dem Keynote-Vortrag von Dallas Consulting. Das Streben nach Perfektion ist letztendlich zum Scheitern verurteilt, doch viele kleine Ziele und erreichte Meilensteine summieren sich zu spürbaren Verbesserungen. 
 
Eine Änderung mit potenziell erheblichen Auswirkungen ist die Verlagerung von Softwareplattformen in die Public Cloud – mit verantwortungsvollen Anbietern, die sich auf CO2-neutrale Lösungen konzentrieren. Cloud-Anbieter sind von Natur aus effizienter. Effizienz schlägt sich unmittelbar in ihrer Bilanz nieder, daher investieren Cloud-Anbieter in modernste Technologie und überwachen, dass Hardware effizient genutzt und die Kapazität optimiert wird. Erhebungen zufolge werden 20 Prozent der Rack-Server nicht vollständig oder gar überhaupt nicht genutzt. Das Cloud-Umfeld gehört zu den Outsourcing-Kosten, die Procurement-Teams sehr genau im Auge behalten. Unternehmensintern gehostete und verwaltete Server hingegen fliegen meistens unter dem Radar.
 
 
Wie passt KI in Ihre Nachhaltigkeitsinitiative?
 
Wie steil die KI durchgestartet ist, dürfte niemandem entgangen sein. Das Potenzial für KI scheint unbegrenzt, und ihre Vorteile werden von vielen bereits erkannt und genutzt. Es gibt jedoch versteckte Kosten im Hinblick auf die Nachhaltigkeit.
 
Das Trainieren von Large Language Models (LLMs) erfordert eine enorme Rechenleistung. Die Emissionen für das Training von GPT-3 belaufen sich auf rund 500 Tonnen Kohlendioxid. Das entspricht einer Strecke von 1,4 Millionen Kilometern in einem durchschnittlichen Pkw mit Benzinmotor oder dem Laden von 67 Millionen Smartphones.
 
Die Integration von KI und LLMs in beliebte Suchmaschinen ist derzeit ein heißes Thema. Aber das Hinzufügen generativer KI erfordert Schätzungen zufolge bei jeder Suche 4- bis 5-mal mehr Rechenleistung. ChatGPT hat derzeit rund 13 Millionen Nutzer:innen pro Tag, und eine typische Mainstream-Suchmaschine verarbeitet täglich 500 Millionen Suchvorgänge!
 
Wir sollten auch die Hardware berücksichtigen, die zur Generierung von KI-Modellen benötigt wird. Die bekanntesten generativen KI-Modelle werden von Hyperscale-Anbietern verarbeitet und erfordern Tausende von Servern mit GPUs (Graphics Processing Units). Aufgrund von Crypto-Mining und maschinellem Lernen überstieg die Nachfrage nach GPUs zeitweise die Produktionskapazitäten. GPUs eignen sich hervorragend für maschinelles Lernen, weil sie riesige Datensätze verarbeiten und komplexe Algorithmen effizienter und parallel ausführen können, aber ihr Energiebedarf ist enorm groß
 
Rechenzentren verursachen derzeit weltweit rund 1 bis 3 Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen, werden Schätzungen zufolge jedoch der steigenden Nachfrage nach generativer KI nicht gewachsen sein, wenn diese in gängige Suchmaschinen integriert wird.
 
Bei der Errichtung neuer Rechenzentren zeichnen sich nun ein Umdenken und eine zunehmende Dynamik ab. Beim ATC Ethical Business Summit erwähnte Christos Ellinides, Directorate-General for Translation der Europäischen Kommission, dass europaweit neun Rechenzentren für Supercomputer eingerichtet und weitgehend mit erneuerbarer Energie betrieben werden. Ein Rechenzentrum in Luxemburg nutzt beispielsweise zu 100 % umweltfreundliche Energie aus Holzabfall zum Kühlen und Betreiben des Supercomputers.
 
 
Warum erfordert KI so viel Rechenleistung? 
 
Das anfängliche Trainieren eines generativen KI-Modells ist der intensivste Teil des Prozesses. Das Training eines einzelnen LLM entspricht dem Energiebedarf und der CO2-Bilanz eines transatlantischen Linienflugs. Nach dem Training erfordert die Verwendung dieser Modelle zur Beantwortung von Nutzeranfragen für jede Sitzung weniger Energie, aber die Anzahl der Sitzungen nimmt stetig zu.
 
Zudem erleben wir einen steilen Anstieg der Open-Source-Varianten für LLMs, weil Unternehmen in diesem Bereich um die Marktführung konkurrieren. Das Open-Source-Umfeld liefert immer neue Innovationen, bietet eine Auswahl an Modellen und macht sie für ein breiteres Publikum zugänglich. Im Hinblick auf die Nachhaltigkeit bedeutet das jedoch, dass mehr Unternehmen an der Entwicklung oder Feinabstimmung ihrer eigenen Modelle arbeiten, was wiederum zu einem höheren Energiebedarf führt. Aufgrund dieses dezentralen Ansatzes liegt die Verantwortung nicht nur in den Händen einiger weniger Unternehmen. Maßnahmen und Initiativen zur Reduzierung des CO2-Fußabdrucks müssen mehr Unternehmen zugänglich gemacht werden.
 
Es wird viel geforscht, um den besten Ansatz für die Festlegung einer LLM-Strategie zu finden. Dazu gehört auch die Frage nach der optimalen Größe. Ist es besser, ein LLM von Grund auf neu zu entwickeln oder ein kommerzielles Modell zu verwenden? Ich sehe da viele Ähnlichkeiten mit den Erfahrungen der Übersetzungsbranche in den Anfangszeiten der Translation Memorys, als Branchenexpert:innen nach dem optimalen Ansatz zur Perfektionierung ihrer TM-Strategie suchten. Mit dem Aufkommen von LLMs beginnt diese Diskussion von Neuem, denn wir können das Potenzial generativer KI nutzen, um herkömmliche Übersetzungsressourcen wie TMs, Terminologie und maschinelle Übersetzung zu ergänzen, zu trainieren und zu verbessern.
 
 
Wie können KI-Technologieunternehmen die Situation verbessern?
 
Die Untersuchungen zur Reduzierung der zur Verarbeitung neuer Daten erforderlichen Rechenleistungen laufen auf Hochtouren. Bereits jetzt ist klar, dass die Feinabstimmung oder das spezielle Trainieren eines bestehenden LLMs kostengünstiger sind als das Erstellen eines neuen LLMs.
 
Zu beachten ist aber auch die Kritik, dass ESG-Aspekte zu stark reglementiert werden. Dies wiederum führt zu einer überhöhten Fixierung innerhalb von Unternehmen, in denen mit ESG-Praktiken Tugend signalisiert wird, manchmal auf Kosten des Geschäfts und des technologischen Fortschritts. 
 
Wir müssen ein ausgewogenes Verhältnis von Wert und Genauigkeit finden. Wenn sich die Kosten für eine um 1 bis 2 Prozent höhere Genauigkeit eines Modells auf Tonnen von Treibhausgasen belaufen, stellt sich die Frage: Lassen sich die damit erzielten Vorteile rechtfertigen? In bestimmten Bereichen und bei einigen Content-Streams sind zusätzliche 1 bis 2 Prozent Genauigkeit von entscheidender Bedeutung – aber in anderen Fällen sind die Vorteile kaum erwähnenswert.
 
 
Und Lokalisierungsexpert:innen? Was können sie tun?
 
Der erste Schritt ist die Auswahl des richtigen Anbieters. Viele Rechenzentren werben mit ihrem Engagement für die Senkung ihrer CO2-Emissionen, aber es liegt in unserer Verantwortung, sie in die Pflicht zu nehmen. Trados Enterprise lässt bei AWS hosten. AWS strebt für das Jahr 2030 die 100 %ige Energieversorgung aus erneuerbaren Quellen an und dürfte dieses Ziel nach dem derzeitigen Stand bereits im Jahr 2025 erreichen. Zudem hat sich das Unternehmen das Ziel von netto null CO2-Emissionen spätestens 2040 gesetzt.
 
Die Zusammenarbeit mit verantwortungsvollen Anbietern kann Ihnen helfen, Ihre eigenen CO2-Reduktionsziele zu erreichen. Nehmen Sie diesen Aspekt daher konsequent in Ihre Auswahlkriterien auf. Wenn die Umstellung auf die öffentliche Cloud nicht möglich ist, empfiehlt sich ein verantwortungsvolles Rechenzentrum anstelle selbstverwalteter Server.
 
KI verändert unsere Welt, und ich will niemanden davon abhalten, an diesem Wandel teilzuhaben. Wir können jedoch alle darauf achten, KI verantwortungsvoll einzusetzen und die Umweltauswirkungen unserer Entscheidungen zu berücksichtigen.
 
Nutzen Sie KI-Innovationen, aber gehen Sie sicher, dass sie echten Mehrwert bieten. Der Markt wird mit KI-Funktionen überflutet, die sich ausnahmslos als optimal und zukunftsweisend vermarkten. Das ist ein bedauerlicher, aber unweigerlicher Begleiteffekt des schnellen und dynamischen Wachstums von KI. Stellen Sie sich bei der Bewertung einer neuen Funktion folgende Fragen: 
  • Kann ich dadurch Kosten senken?
  • Wird dadurch die Qualität verbessert?
  • Führt sie zu mehr Effizienz?
Wenn die Antwort auf alle diese Fragen „Nein“ lautet, können Sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf diese Funktion verzichten.
Ian Parnell
AUTOR

Ian Parnell

Senior Product Manager

Ian Parnell ist Senior Product Manager bei der RWS Group. Seit seinem Einstieg als Technical Support Manager für das neue Translation Management System beim damaligen SDL im Jahr 2005 hat er verschiedene Rollen rund um die Übersetzungsmanagement-Technologie bekleidet.


Ian Parnell verfügt über fast zwei Jahrzehnte Erfahrung in der Lokalisierungsbranche und hat in dieser Zeit eng mit einigen weltweit führenden Unternehmen aus den verschiedensten Branchen zusammengearbeitet. In seiner Freizeit unternimmt er Wanderungen mit seiner Familie im Nationalpark Peak District, spielt Golf und geht zu den Spielen des örtlichen Fußballvereins Sheffield Wednesday.

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